der gelernte einbrecher paul befreit sich aus der anonymität seines gefangenendaseins indem er sich ein seegeboot in den knast betellt. für das romanfragment wurde ich 1999 mit dem literaturpreis ausgezeicchnet. daraus möchte ich gerne einen komplettroman machen

hier noch einmal mein romanfragment:


die Legende von

Paul und Rosa






ein Roman-Fragment







von Ralf-Axel Simon





Diese Geschichte ist

-genauso wie die Texte von 41 anderen gefangenen Auroren - mit dem Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene 1999 ausgezeichnet.

Die Jury hat aus 15000 Textseiten eine Anthologie von 250 Seiten zusammengestellt die im Buchhandel unter "wenn Wände erzählen könnten" erscheinen ist.(mittlerweile schon vergriffen)










Gebote braucht der Mensch wohl um zu überleben,

Also schafft er ständig Neue sie zu übergeben,

An die Welt, die nach ihm sein wird, und an seine Erben,

Denn es läßt sich mit Geboten wirklich leichter sterben.

Lernte ich doch in der Schule: niemand solle lügen

Und so war ich völlig sicher: keiner wird betrügen

Doch im Lauf von dreißig Jahren lernte ich verstehen

Das Gebot kreiert man ja nur, um es zu umgehen

Wasserpredigt, Weingelage, so stehen die Gesetze,

Und wer heut Moral noch fordert,

Ruft schon auf zur Hetze.

Darum sah ich mich gezwungen, eigene mir zu schaffen

Zehn Gebote für mein Leben

Als die letzten Waffen:

Aufrecht stehen, wenn andere sitzen

Wind zu sein wenn, andere schwitzen

Lauter schreien, wenn andere schweigen

Beim Versteckspiel sich zu zeigen,

Nie als anderer zu erscheinen,

Bei Verletzung nicht mehr weinen,

Hoffnung haben beim Ertrinken,

Nicht im Wohlstand zu versinken,

Einen Feind zum Feinde machen,

Solidarität mit Schwachen.

Und ich hab sie nie gebrochen bis auf ein Gebot:

Bei Verletzung wein` ich manchmal,

Was ich mir verbot

Bettina Wegner

Prolog

Diese Kurzgeschichte ist eigentlich ein ausführliches Exposé zu meinem Roman. Sie soll neugierig machen auf das Gesamtwerk. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind gewollt : wie man mehrere Holzstücke zu einem stabilen Brett zusammenleimt, habe ich das Leben von mehreren Menschen zu einer Person verschmolzen. Um mich vor strafrechtlichen Maßnahmen zu schützen, habe ich die Wirklichkeit nicht einfach kopiert.

1

Erleichtert hört Paul aus der Ferne den stechenden Schritt, der sich mit dem Klappen des Spions von Zellentür zu Zellentür tastend nähert.5,30 Uhr.Endlich! Gegen Mitternacht hatte er entdeckt, daß sein Melanom unter dem Arm blutete. Seine bescheidenen Laienkenntnisse verdichteten sich in der stillen Dunkelheit zu der Gewißheit: Hautkrebs.

Wie einen Film hatte er sein Leben Revue passieren lassen. Nicht, daß er nicht gerne lebte , aber er akzeptierte, daß seine Zeit reif ist, vielleicht auch deshalb, weil er weder das Gefühl hatte, etwas Wichtiges versäumt zu haben, noch fiel ihm etwas ein, was er noch dringend erledigt haben wollte. Die Angst vor Schmerzen wich der Entschlossenheit, für die Zeit der Hilflosigkeit vorzusorgen, solange er noch im Besitz seiner Kräfte war. Der Tod war für ihn schon seit frühester Jugend kein Schreckgespenst.Quasi als Lebensversicherung -falls die Lebensverhältnisse so unerträglich sind- hatte er sich für das Aufschneiden der Pulsadern entschieden, wegen der orgastischen Müdigkeit beim Auslaufen des Blutes. Diese Vorstellung war sein Rettungsanker.

Paul weiß, daß Hautkrebs eine Heilungschance von annähernd 90 Prozent hat. Aber da ist er sich sicher: diese Statistik wurde nicht im Knast gemacht. Und sein Melanom ist so nah an den Lympfknoten! Will er sich von der Schulmedizin behandeln lassen? Er hat seinem Körper beigebracht sich selber zu helfen.Deshalb ist er nie ernsthaft krank gewesen. Er lehnt nicht kategorisch die Gerätemedizin ab, aber sein Verhältnis zu Ärzten entspricht dem zu Versicherungsvertretern: er versucht erst ihr Eigeninteresse herauszubekommen, bevor er ihnen vertraut.

Die Erinnerungen an Elke kommen hoch-sie ist vor einem Jahr an Brustkebs gestorben. Vor Fünf Jahren, nach der Diagnose, hatte er von ihr verlangt, daß sie ausbricht aus den Strukturen, die sie krank gemacht haben, daß sie alle Sicherheiten hinter sich läßt und einen neuen Lebens-anfang wagt. Sie fühlte sich von ihm verbal bedroht und flüchtete nach Stuttgart zu ihrer Mutter.Heute tut es ihm weh, weil er sie nicht in den Arm nahm, sondern mit den Worten aus Berlin verabschiedete:"ein gefangenes Tier hat zwei Möglichkeiten: sich entweder das Bein abzubeißen, an dem die Schlinge befestigt ist, oder sich zusammenzurollen, um zu sterben!".

So hat jeder seine Gitter vor seinem eigenen Fenster. "Lieber die Gitter aus Eisen",denkt Paul und betrachtet das einst von Menschen erdachte Monstrum: hinter den dicken Eisengittern ,befindet sich ein engmaschiger Draht und dahinter eine dicke Metallplatte mit lauter kleinen Löchern, so daß ein Blick in den Hof unmöglich ist. Die Glasscheibe hat eine milchige Form angenommen, da sie nicht zu putzen ist. "Aber gegen diese Gitter werde ich anrennen!", verspricht sich Paul und denkt dabei an Elke.

Er faßt den Entschluß über seinen letzten Lebensabschnitt ein Buch zu machen. Er verspricht sich davon, seine Gedanken zu ordnen und zu verarbeiten, der Einsamkeit und der Ohnmacht etwas entgegen zu setzen, und dadurch der Krankheit einen Sinn geben. Der Schließer erreicht seine Zelle. Er schaltet das Scheinwerferlicht über der Stahltür ein und sieht durch den Spion. Paul bewegt sich, erfüllt damit die Lebendkontrolle und erspart sich das Bummern des Schließers an die panzerschrankähnliche Tür.

Ist es irgendwo nicht folgerichtig, daß er krank geworden ist?. Ihm fällt das Lied von Robert Long ein: "Was hat das Kämpfen noch für einen Sinn, wenn man das Gefühl hat, daß man nichts mehr ändern kann." Früher hatte er noch die Vision einer menschlichen Gesellschaft, seit zehn Jahren hat er nur noch das Gefühl, sich verhalten zu müssen, seine ganze Körperkraft gegen diese Walze zu stellen, diese Walze nicht stoppen, allenfalls ein wenig aufhalten zu können, und wenn seine eigene Körperkraft nachläßt ,wird er von der Walze überrollt oder spätestens von den Menschenmassen, die hinter der Walze lauern, niedergetrampelt. Das ist der Lauf der Dinge! Er hat immer auf der Verliererseite gekämpft, aber diese Seite hat er sich ausgesucht, das ist seine Seite!

"Cäsar 2 Freistunde" hört Paul den Schrei eines Schließers durch die Verließmauern. Sein müder Blick prüft durch die Gitter das Wetter: Schneematch, kalt und ungemütlich. Das so ersehnte Klackern des Aufschließens der Zelle drängt ihn zu einer Entscheidung. Am liebsten würde er sich unter die Decke verkriechen. Aber nachher würde er sich ärgern, 24 stunden allein auf der Zelle , ohne diese eine Freistunde. Paul schnappt sich ein paar Socken als Handschuhe, streift die anstaltseigene Jacke über und bummert mit dieser von Tag zu Tag zunehmenden Wut eines Verzweifelten, dem wieder einmal sein Recht aberkannt wird, gegen die panzerschrankähnliche wieder geschlossene Tür. "Sie müssen zum Hofgang bereit stehen", belehrt der Schließer Paul und entläßt ihn zu den 50 gefangenen Menschen, die aus ihren Zellen gekrochen sind. Die Gefangenenrunde ist eröffnet: beim sturen Laufen im Kreis kann man reden und hören, ohne das eine Blume vertrocknet. Paul erinnert sich an einen Auspruch von Marianne Herzog:"würden wir auch ohne Freistunde überleben, bekämen wir keine!" Und doch tut es immer wieder weh:an die 23 Stunden Alleinsein hat er sich so gewöhnt, daß er nicht mehr das Bedürfnis verspürt zu reden. Erst die Freistunde legt den Finger auf die Wunde und macht ihm klar, was er vermißt.

Schon die letzten Male schlich Paul Runde für Runde über den Hof. Über Banalitäten zu reden hatte er keinen Nerv. Die fünf Jahre, die er sich eingefangen hat ,schmerzen ihn und jedes weitere Jahr, was er abmacht, fällt ihm zusehends schwerer. Doch zum Problem für ihn ist die Zeit danach. Er kann seinen Beruf als Einbrecher nicht mehr ausüben mit seinen Mitte vierzig Jahren, zumal ihn ein dienstbeflissener Beamter anschossen hat - Trümmerbruch - seitdem zieht er das Bein nach.

Er hat nichts anderes gelernt als diesen Beruf, der sein Leben, seine Passion war. Er liebte die Freiheit den zu beklauen, dem es nicht weh tat. Aber er litt auch darunter, die Freude über einen außergewöhnlichen Coup nicht teilen zu können, und er trug mit Würde den Preis: 10 Jahre Knast, mit Unterbrechungen. Eine Zeit dachte er, daß jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, sich zu verabschieden. Da er sich geschworen hatte, diesen Schritt nie aufgrund einer momentanen Laune zu gehen, und es außerdem nicht sein Stil war, sich von dannen zu schleichen, beschloß er auf den erweiterten Hofgang zu warten und dann, wenn er es noch wollte, einen von diesen Bonzen mitzunehmen. In der Kindheit hatte er von einem japanischen Flieger gehört, der sein Flugzeug auf den Palast eines dieser großen Herrscher abgestürzt hatte. Das imponiert ihm. Es hat nur einen Haken: Paul kann nicht fliegen - noch nicht.

"Willst du ne Schwinge", hört Paul seinen Zellennachbarn rufen. "für nen Pack Tabak". Paul widern diese Pornos an. An Frauen denkt er am wenigsten. Selbst seine Träume haben sich den Gegebenheiten angepaßt. Und wenn er an Frauen denkt, dann nicht, wie er welche Schönheit am besten in welcher Stellung bumst. Er träumt von einer Partnerin mit der er vielleicht die letzten Tage auf der Osterinsel verbringt, einer selbständigen Frau, die völlig anders ist als er, an deren Leben er aber gerne teilnähme. Er ist müde von dieser Suche nach einer eigenständigen Hand, hat sie fast schon aufgegeben, denn er fand nur Wachs und Eisen in seiner Hand.

"Willst du ne Illustrierte, wenigstens einmal am Tag Menschen angucken", bietet Manfred an. Paul hegt eine gewisse Sympathie für diesen Berber, den die Mitgefangenen verspotten. Paul grübelt darüber, was ihn an diesem Menschen so fasziniert, vielleicht die Aussteigermenthalität, das Nichtbeachten des gesellschaftlichen Grundstrebens, immer höher, schneller, weiter springen als der Mitmensch. Paul gibt Manfred ein Päckchen Tabak für eine paar Illustrierten, in die er vielleicht nie reinsehen wird, und erhält einen Katalog als Zusatzgabe. Diese Geste freut ihn besonders.

"Einrücken" schreit der Schließer, während er mit dem großen Schlüssel auf das Geländer schlägt. Die unmotivierte Gruppe findet sich an der Eingangstür ein, bevor der Schlüssel die Erholung von der Zelle beendet. Die Menschen gehen bereitwillig in ihren Käfig. Einer von den Professionellen schließt einzeln. Jedes mal, wenn der Schlüssel so erbarmungslos in das Schloß knallt - ein Klang an den er sich nie zu gewöhnen glaubt - ,zieht sich alles in seiner Brust zusammen. Er reißt das Fenster auf, das perverse Architekten direkt unter die Decke gebaut haben, damit man springen muß, um einen Blick zur nächsten Mauer zu erhaschen. Seine Wut hat sich im Laufe der Knastjahre abgeschliffen. Er hat sich gewöhnt, das heißt er speichert Kieselstein für Kieselstein seine Wut, bis sie sich endläd bei einer Nichtigkeit.

2

Draußen auf dem Gang hört Paul das hastige Treiben, ein hektisches Schreien: "Cäsar3 schicke mir mal den 310 zur Vernehmung " , "Cäsar 4 die 433 zum Arzt". Bis 14uhr begleitet ihn der Lärm. Und jedesmal hört er mit einem Ohr auf den Gang - sie könnten ja seine Zellennummer rufen. Nein das kann heute nicht sein, er hat heute früh keinen Vormelder geschrieben. Wie er diesen Papierkrieg haßt, alles muß er schriftlich und kann es nur morgens beim ersten Aufschluß beantragen.

Sein Auge fällt auf den kleinen Tisch, auf dem er den Katalog abgelegt hat. Das Segelboot auf der letzten Seite fesselt seinen Blick. Wunderschön. Im Sommer auf der Ostsee die unendliche Weite spüren. Vielleicht eins dieser mittelfristigen Ziele, die die Freude am Leben erhalten. Wenn er einer dieser Bonzen wäre, die die Menschen um Millionen betrogen haben und sich andere Haftbedingungen erkaufen können, die sogenannten Selbstversorger... Die zahlen grundsätzlich ganz legal die Haftkosten, dafür dürfen sie alles, was bei dem normalen Knacki gegen Sicherheit und Ordnung verstößt: die Zellen sind offen. Wenn sie keine Zigaretten haben, muß der Schließer welche holen. Mittags kommt der Schließer mit einer Speisekarte aus den umliegenden Restaurants. Die Couch, der Sessel, der Fernseher machen die Zelle zu ihrer Wohnung. Im Gerichtsgebäude wird ihnen ein Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt. Das ist keine Bestechung, denn deutsche Beamten kennen offiziell dieses Wort nicht, nein es ist alles ganz legal. Aber wenn Paul nachdenkt, nicht einmal dieser Selbstversorger würde sich ein Segelboot bestellen können. Plötzlich schießt ihm ein Gedanke in den Kopf ,den er sofort formuliert: "Sehr geehrte Damen und Herren! Meine Frau und meine Wenigkeit sind seit kurzem im verdienten Ruhestand. Da wir direkt am See wohnen, kam uns der Gedanke ,die restlichen Jahre auch teilweise auf dem Wasser zu verbringen. Kurz und gut, wir interessieren uns für ein Segelboot - nicht zu groß und nicht zu klein, schnuckelig muß es sein. Der Preis spielt keine Rolle. Wir fiebern ihren Angeboten entgegen. Hochachtungsvoll Margot und Paul von Ertel.

Am nächsten Morgen beim ersten Aufschluß gibt Paul den Brief wie vorgeschrieben offen dem Schließer. Unbeanstandet klebt der Schließer den Brief zu. Die erste Klippe wäre umschifft.

3

Gestern machte es ihm Mühe aufzustehen. Heute fühlt er sich wie in einem Hotel, wo die Nichtigkeiten Essen, Trinken, Schlafen für ihn geregelt werden und er den Kopf frei hat für die wichtigen Aktivitäten. Der Alltag hat durch die Hoffnung einen neuen Anstrich bekommen.

Drei Mittage später, Paul löffelt seinen Eintopf in sich hinein, kommt der Schließer, der sonst immer ein so verkniffenes Gesicht macht, mit einem Lächeln in seine Zelle gestürmt. Paul denkt Zellenfilzung und greift seine Verteidigerakte, als der Schließer einen großen Umschlag auf den Tisch legt. "Ist zwar auch an ihre Frau adressiert -ich weiß nicht, was die sich draußen unter Knast vorstellen", schmunzelt der Schließer und verschwindet. "Sehr geehrte Frau von Ertel, sehr geehrter Herr von Ertel! Gerne schicken wir ihnen Prospektmaterial und würden uns freuen sie als Kunden zu gewinnen. P.S. Die Preise verstehen sich incl. Anlieferung." "Das könnt ihr haben", denkt Paul, als seine Augen sich an den schönen Schiffen nicht satt sehen können. "Stolze Preise", murmelt er vor sich hin, "aber das soll mir egal sein - wenn jemand bezahlt, dann Justizia, und die haben sich immer als großzügig erwiesen, wenn es um mein Geld ging." Er erinnert sich daran, daß sie ihm einmal die Haftkosten in Rechnung gestellt hatten- über 100 DM verlangten sie, pro Tag, ein ganzes Jahr lang, weil er sich geweigert hatte die Schlösser für den neuen Knast anzufertigen. "Ich bin weder ein Dummkopf noch ein Kameradenschwein", hatte er argumentiert -sie hatten nur den Pfändungsbescheid geschickt. Nun glaubte er moralisch gesehen bei ihnen etwas gut zu haben.

Die Tage vergehen. Einmal sagt ein Schließer zu ihm: "Sie lächeln so, es geht ihnen wohl noch zu gut". Tatsächlich fühlt Paul sich beschwingt durch die Tatsache, von etwas zu wissen, was ihm gehört.

Zwar stand er auch bei seiner Gerichtsverhandlung im Mittelpunkt, aber eigentlich war er dort Statist gewesen, denn sie hatten über seinen Kopf hinweg entschieden. Jetzt ist es genau umgekehrt: seine Kontrahenten wissen von nichts, und der Gedanke, daß sie sich nur blamieren können gibt Paul Genugtuung.

4

"Cäsar 2 baden", schreit jeden Dienstag nachmittag ein Schließer vorne an der Zentrale. Das Klackern des Aufschließens der Zellen kommt immer näher. Paul schnappt sich Handtuch und Seife und zieht die klobigen Anstaltsschuhe an - nur wer festes Schuhwerk trägt, wird zum Duschen mitgenommen, Hausverfügung . Die Gefangenen von Pauls Station sind aus ihren Zellen gequollen, versammeln sich an der Zentrale, um in den Keller gebracht zu werden. Der Ort ist der gleiche wie damals, heutzutage kommt Wasser aus den Leitungen. Die letzten Meter zum Umkleideraum werden gelaufen, jeder beeilt sich sich auszuziehen.

Auf Kommando wird das Wasser im Duschraum angeschaltet. Als Paul sich eingeseift hat, wird das Wasser abgestellt. Paul muß den Seifenschaum mit dem Handtuch abstreifen. Jetzt macht jeder alles in Ruhe, läßt sich nicht hetzen. Der Duschkalfaktor, ein privilegierter Gefangener, platzt mit der neuesten Meldung heraus: "vor der Anstalt steht ein Segelboot".

"Ach haben sie doch geliefert!", setzt Paul den sprachlosen Gefangenen die Krone auf.

Während die Gefangenen sich aus dem Keller hochquälen und sich aufgedreht, aber gehorsam jeder in seine Zelle einschließen läßt, wird Paul von einem Schließer abgefangen: "Hauskammer". "Laß dich nicht unterkriegen", begleiten ihn die Blicke der gefangenen Meute über den Stern durch mehrere Gitter hindurch in den A-Flügel. Die Gitter sind notwendig, um sich von den Gefangenen zu schützen. Paul freut sich über die Angst der Verantwortlichen.

Paul wird in eine der Wartezellen zwischengelagert. Das letzte Mal, als er in das Hausbüro geführt wurde, waren seine Eltern extra aus Westdeutschland angereist, um ihn zu besuchen. Ein dicker Mann aus dem Hausbüro mit einem zynischen Gesichtsausdruck sagte nur immer stereotyp: " Das verstößt gegen die Sicherheit und Ordnung der Anstalt", ohne darauf einzugehen, daß seine Eltern die lange Reise unverrichteter Dinge wieder nach Hause machen mußten. Seine Eltern sind über siebzig, zehn Stunden Reise hin, zehn Stunden Reise zurück in brütender Hitze. Als Paul den Zyniker hinter dem Schreibtisch sah, entstand das Bedürfnis, in dieses Schweinsgericht zu schlagen, für einen Moment überlegte er sich sogar, ob sich ein Lebenslänglich lohnen würde - Hunde die bellen beißen bekanntlich nicht. Es blieb beim Beschimpfen, und Paul hatte ein neues Verfahren wegen Beamtenbeleidigung. "Kann man so jemanden noch beleidigen?", hatte Paul bei Gericht auf den Beamten gezeigt - das Gericht beantwortete diese Frage mit 3 Monaten Zusatzknast. Leider für den Falschen, wie Paul bitter feststellte.

Der Schlüssel sticht und Paul wird freundlich in das Büro übergeben. Ein Mann, gut gekleidet, bittet ihn, auf dem Stuhl Platz zu nehmen. Pauls Blick streifen die Fenster, auch sie sind dick vergittert. "Wer was auf dem Kernholz hat, der wird eben eingesperrt", stellt Paul mit Genugtuung fest. "Möchten sie einen Kaffee", fragt der freundliche Mann. Seine Gesichtszüge wirken leicht verschmitzt, und wenn Paul diesen Mann außerhalb der Anstalt treffen würde, käme ihm nie der Gedanke, daß er in dieser Zombiewerkstadt arbeiten könnte. Während Paul genüßlich den Kaffee schlürft, es ist der erste Kaffee, den ihm seine Feinde ausgegeben haben, kommt der nette Mann zur Sache: "Sie haben ein Segelboot bestellt, es liegt vor der Anstalt, wir wissen nicht, was wir damit machen sollen". Sein Gesichtsausdruck verrät etwas Spitzbübisches. Für einen Moment genießt Paul die Stille im Raum, alle Mitarbeiter Die Arbeit unterbropchen zu haben. "Guter Mann", beginnt Paul seine Rede wie vor einem großen Publikum, "ich trinke gerne mit Ihnen einen Kaffee, aber ich mag ihre Firma genaugenommen ihren Dienstherren nicht, dem sie zur Loyalität verpflichtet sind, ja noch viel schlimmer, für den sie die Sklavenarbeit machen, deshalb haben wir nichts miteinander zu bereden. Wenn sie etwas von mir wollen, stellen sie einen schriftlichen Antrag - ich werde ihn wohlwollend prüfen". Paul nimmt seinen letzten Schluck aus der Kaffeetasse -ein kurzes Zucken, das keiner gemerkt hat, er wollte zum Waschbecken, die Tasse abwaschen- und steht auf um zu gehen. "Sehen sie doch", redet der nette Mann auf Paul ein, "wir wollen uns doch nur unterhalten. Und Sie können uns glauben, wir finden die ganze Sache auch spaßig und da spreche ich nicht nur für mich", guckt er so in die Runde.

"Sie sind für mich kein Diskussionspartner", sagt Paul und wendet sich zur Tür. Während er darüber nachdenkt, was das Hausbüro von ihm eigentlich wollte, schließt der Schließer ihn durch mehrere Gitter in seine Zelle.

5

Die Post kommt reichlich seitdem das Segelboot wieder abtransportiert wurde. Meist sind es Solidaritätsbriefe von Menschen mit der Erfahrung des Eingesperrtseins. Die Post von den sogenannten Nichtgefangenen ist ebenfalls positiv, doch halten sie grundsätzlich Paul für einen Narren. Paul möchte gern ein Narr sein, dann könnte er der Welt sagen, was er von ihr hält, und keiner würde sich an die eigene Nase fassen und alle würden sagen: " ein Narr, ein Narr welch ein Vergnügen!"

Vielleicht, denkt Paul weiter, sollte jeder Mensch einmal 12 Monate Grundknastdienst abmachen statt des sinnlosen Wehrdienstes.

Ein Brief berührte Paul besonders. Vor allem, was die Schreiberin Rosa über ihre Freundin Mira schreibt:"Ich wohne jetzt mit einer Freundin zusammen. Sie ist Bosnierin. Eigentlich geborene Serbin, hatte einen Moslem geheiratet. Mit ihren zwei Kindern saß sie 2 Jahre im Bunker im Krieg. Dann konnte sie einen Platz im Bus bekommen. Auf dem Weg nach Deutschland wurden sie von Tschetniks überfallen ,die einige Frauen vergewaltigten und ihnen die Kehle durchschnitten. Sie kam nach Berlin, wo schon länger ihr Mann lebte. Dort stand sie mit ihren zwei Kindern vor der Tür und begriff erst jetzt, daß der Mann sich anderweitig gebunden hatte. Als sie nachts durch die Straßen irrte, griff die Polizei sie auf, und ein verständnisvoller Polizist brachte sie in das Frauenhaus. Bei der Scheidung wurden ihr die Kinder zugesprochen, das kränkte den Mann so, daß er die Kinder entführte und mit ihnen ins Kriegsgebiet flüchtete. Jetzt soll sie hier ausgewiesen werden, sie hat keine Chance, aber sie weiß nicht wohin: Serbien sagt, sie soll nach Bosnien gehen, weil sie einen
Moslem geheiratet hat. In Bosnien besteht echte Lebensgefahr, weil sie geborene Serbin ist."

Paul heftet den Brief mit Zahnpasta an die Zellenwand.

Er erinnert sich daran, daß Bürgermeister Koschnik erst vor kurzem gefragt wurde: "Halten sie eine Rückkehr für möglich?" Und er antwortete: "wollen sie eine politische oder eine ehrliche Antwort?"

Das sind Momente in denen ihm klar wird, wie gut es ihm eigentlich geht. Seine Situation hat er selbst bestimmt, kein Krieg und keine andere Not haben ihn in ein fremdes Leben gezwängt.

"Ich weiß", hat er immer wieder betont, "allein dadurch, daß ich in dieser 1.welt lebe, müssen 10 Menschen in der dritten Welt verhungern. Solange ich in dieser 1. Welt aber noch das Gefühl habe, Sand im Getriebe der Macht zu sein, Widerstand zu leisten, solange habe ich für mich die Lebensberechtigung. Sollte es irgendwann einmal auch in meinem Leben Situationen geben, wo ich nur Überleben kann, weil ich anderen Menschen das Leben nehme, z.B. in Kriegsituationen oder auch in der Zeit danach, wo man nur nach Lebensmitteln giert, möchte ich die Kraft haben mich zu verabschieden. Ich klaue gerne - die, die behaupten sie würden sowas nicht tun, sind es, die keine Moral haben- ,aber nur bei denen, denen es nicht weh tut .

"Ich könnte sie ja heiraten," denkt Paul, "dann könnte sie hierbleiben. ". Paul hat mit dem Heiraten keine Probleme, auch wenn er nie jemanden heiraten würde, den er mag. Ihm ist eine Beziehung zu wichtig, als daß er sie durch Geschlechterrollen abwerten würde. Eine Beziehung zu gestalten, zwischen Leuten, die sehr unterschiedliche Sozalisationserfahrungen haben, in einer Gesellschaft, die permanent dem einzelnen seinen Rollenstempel aufdrücken will, ist schwer, vielleicht zu schwer. Eine Beziehung, die staatlich sanktioniert werde und von daher der gesellschaftliche Erwartungsdruck ungleich höher ist, ist eigentlich unmöglich. Deshalb hat er für sich beschlossen , so etwas Unmoralisches wie Heiraten zu unterlassen.

Aber der Gedanke, mit dem Heiraten was Sinnvolles anzufangen, arbeitet in ihm. Und er empfindet ein tiefe Genugtuung darüber, eins der größten Herschaftsinstrumente in dieser Gesellschaft umzufunktionieren. Eine ähnliche Genugtuung hatte er lediglich bei seinem größten Coup empfunden, als er aus einer Villa unerwarteterweise über eine Million an Gold herausholte. Er als Atheist, würdigte die göttliche Fügung und statt einer Kerze spendete er 1 Prozent von dem sehr schnell eingeschmolzenen und verkauften Gold eine soziale Knastorganisation. Die Gesichter seiner Mithäftlinge hätte er schon gerne gesehen, nicht aus Dankbarkeit, aus Neugierde - aber alles kann man eben nicht haben.

6

"Zum Dachdecker" brüllt der Schließer in Pauls Zelle. "Ich habe keinen Vormelder geschrieben", versucht Paul Zeit zu gewinnen. "Kommen sie in fünf Minuten, ich überlege mir, ob ich mitkomme". Mit offenem Mund steht der Schließer da: "dann schreibe ich sie haben verweigert".

Was hat Paul mit dem Psychiater zu schaffen? Wenn man nur ein bißchen ausschehrt, wird einem gleich eine psychische Krankheit bescheinigt. Diese Gesellschaft muß immer gleich ein Schubfach aufmachen. Für einen Moment dachte er sich nicht freiwillig dem Psychiater stellen zu wollen, einem Menschen, der ihm womöglich eine Milchmelkmaschine verkaufen würde, um dafür die letzte Kuh in Zahlung zu nehmen . "Aber andererseits, wovor habe ich Angst", denkt Paul, "ich weiß was ich will. Und ich habe in dieser Anstalt die Menschen verwaltet, gute Erfahrung damit gemacht mit den Menschen zu sprechen. Immer wenn ich freundlich und bestimmt meinen Standpunkt vertrat bei den Menschen, die etwas zu entscheiden hatten, bekamen sie plötzlich Skrupel."

Der Schlüssel sticht. "Was isn nun", macht der Schließer vom Tonfall deutlich, daß er nicht der Bedienstete der Gefangenen ist. Paul schnappt sich seine Jacke und läßt sich von dem Schließer über die Zentrale und den Ausgang über den B- Flügel in das Vollzugskrankenhaus bringen. Hier werden alle Gefangenen aus den Berliner Knästen behandelt. Das Haftkrankenhaus hat keinen guten Ruf. Welcher Arzt, der etwas kann, würde auch freiwillig in den Knast gehen? Also finden sich hier vorallem Neueinsteiger. Paul wartet mit dem Schließer auf einem langen Gang. Er überlegt, was er macht, wenn der Schließer mit in das Behandlungszimmer will. Dann wird er aufgerufen. Der Schließer bleibt sitzen.

"Guten Tag Herr Ertel ",begrüßt ihn ein Mann um die 60 und weist ihm mit hochherschaftlicher Gestik einen Stuhl zu. "Oh Entschuldigung, von Ertel", korrigiert er sich mit einem Lächeln.

"Sie können sich vorstellen, weshalb sie hier sind", sagt der freundliche Seelendoktor und fährt nach einer kleinen Pause fort: "Sie brauchen aber keine Angst zu haben, ich werde auf meine letzten Tage nichts machen, was ich gewissensmäßig nicht verdauen könnte. Ich werde ihnen ein Gutachten schreiben, das können sie nicht besser! Das, was ich ihnen jetzt sage , das haben sie nicht von mir: ihr Segelboot hat Glanz in diese triste Hütte gebracht. Ich bin in der Zeit freudig zur Arbeit gegangen. Schließlich war es spannend zu sehen, ob es schon abtransportiert wurde. Die ganze Atmosphäre hat sich auf der Bedienstetenseite gelockert, sie hatten ein Thema. Manchmal kam es mir vor, als wenn sie alle einen Dienstausflug zu einer netten Kabarattsendung gemacht hätten - und der positive Wert von solchen Betriebsausflügen ist ja hinlänglich bekannt. Allerdings -darauf angesprochen- würde keiner das so formulieren, schließlich kann nicht sein, was nicht sein darf."

Paul ist beeindruckt, als er wieder in sein Schneckenhaus gebracht wird. "Schade, daß die Menschen erst im Alter zu Persönlichkeiten heranreifen und mutiger werden", denkt er. aber andererseits ist er auch froh, daß es Leute gibt, die wenigstens im Alter nachdenken und sich nicht mehr so einfach funktionalisieren lassen.

7

"Machen sie sich fertig zum Ausgang", befiehlt der Stationsbeamte bei der Frühstücksausteilung. "Wir haben dir ein Jackett besorgt", sagt der Gefangene, der in der Hauskammer arbeitet, "wer ein Segelboot besitzt, sollte auch standesgemäß gekleidet sein". Der Gefangene sieht Paul von oben bis unten an und seufzt: "Löcher in den Hosen aber ein feines Jackett, das hat Stil!". Paul ist über die unerwartete Spende von den Gefangenen irritiert. Erst letzte Woche wollte der Anstaltspfarrer ihn aus Spendengeldern für die Hochzeit neu einkleiden. Paul hatte dankend abgelehnt und den Pfarrer gefragt, ob er sich denn vorstellen könnte, daß ein Anzug zu Paul passen würde. Der Pfarrer verschwand wohlwollend lächelnd.

Aber dieses Jackett war etwas anderes. Paul zog es an als Auszeichnung von Leuten, die sonst wenig Worte machen.

"Wenn sie versprechen nicht zu flüchten", sagt einer der beiden Beamten, die Paul begleiten sollen, "verzichten wir auf Handschellen". "Du hast doch wohl ne Meise", herrscht ihn der andere Beamte an, "willst du dem gesunden Volkszorn ausgesetzt werden und vielleicht noch verprügelt werden, wenn er in Handschellen das Jawort flüstert?". Paul wird mit seinem grünen Jackett ,eingereiht von zwei Beamten in grauer Dienstkleidung, durch die Anstalt geschleust. "Machs gut Paul", hört er die Gefangenen rufen und "wenn man die drei so laufen sieht, weiß man gar nicht so genau, wer da wen ausführt!"

Als sie durch die Sicherheitspforte gehen, genießt Paul, daß er zwei Bedienstete hat, die die Formalitäten abwickeln. "Daran könnte ich mich gewöhnen", denkt er.

"Wir haben noch Zeit ", sagt der eine Beamte ,"wollen wir noch einen Kaffee trinken?" Paul sieht die rote Nase.

"Drei Kaffee und einen Cognac", bestellt der Beamte und entschuldigt sich "ich brauch einen kleinen ich fühle mich grippig."

"Willst du `n Stück Kuchen? Ich geb`einen aus! Außerdem ich bin der Fritz und das ist Reiner. Wenn wir wieder in der Anstalt sind, sagen wir wieder sie zueinander, o.k.?"

Alkoholiker sind in der Anstalt immer die besseren Menschen, denkt Paul, das muß auch etwas mit der Krankheit zu tun haben.

Die U-Bahn bringt die verschworene Gemeinschaft zum Standesamt. Rosa und Mira warten schon. Paul umarmt Rosa und -merklich vorsichtiger- Mira. Als Fritz Rosa gratuliert und sie den Irrtum aufklärt, bekommt Fritz einen roten Kopf :"Bei dir ist wohl nichts normal", beschwert er sich bei Paul.

Der offizielle Teil ist schnell erledigt. Auch der Standesbeamte scheint sich den Gegebenheiten angepaßt zu haben, er redet kein Wort von ehelicher Treue.

Gemütlich wird es beim anschließenden Essen beim Jugoslawen.

Und als Paul wieder in der Anstalt abgegeben wird, ist er noch so aufgewühlt von diesem ereignisreichen Tag, daß er erst gegen Morgen einschläft.

8

Paul liegt seit vier Uhr wach. Wenn er Pech hat, bekommt er zusätzlich drei Jahre Knast, hat ihm gestern sein Anwalt bestätigt. Den Anwalt hat ihm das Komitee für die Unterstützung des alltäglichen Widerstandes in den Berliner Knästen geschickt und auch bezahlt. Ist schon eine tolle Geschichte. Paul fand den Anwalt sofort sympathisch, er sah ihm ins Gesicht und wußte der hat nicht nur Paragraphen im Kopf. Der Anwalt hatte ihm einen Joint angeboten. Paul hatte kurz nachgedacht ,dann aber abgelehnt. "Nicht hier drin", hatte er gesagt, aber dies sehr wohl als Vertrauensbeweis akzeptiert. "Vielleicht" hatte der Anwalt noch gesagt, "kommen wir auch glimpflich weg. Paul hatte das "wir" mit Genugtuung registriert.

Und wenn er ganz viel Glück hat bekommt er heute erst einmal Bewährung und kann vielleicht nach zwei Drittel der Strafe entlassen werden, d.h. er könnte schon nach drei Jahren und vier Monaten entlassen werden. Aber das hieße, daß er schon gleich in den offenen Vollzug gehen könne, denn zwei Jahre vor dem voraussichtlichen Entlassungstermin kann man dorthin verlegt werden. Offener Vollzug bedeutet, nur noch nachts im Knast zu schlafen und drei von vier Wochenenden sogar draußen verbringen zu können. Während er so ins Schwärmen kommt, wird er jäh durch das Klickern des Spions und dem Licht ,was von außen angeschaltet wird, in die Realität zurückgeholt. Er bewegt sich, damit der Schließer sieht, daß er noch lebt. Er klettert langsam aus dem Bett. Auf seinem Stuhl liegen seine Privatklamotten. Er haßt dieses ausgeklügelte System:Immer wenn ein Gefangener Termin hat, wird er zur Hauskammer (um die Anstaltsklamotten gegen Privatklamotten umzutauschen ,nur für diesen einen Tag ) und zum Friseur geschickt. Zum Friseur geht Paul gerne, nicht, weil er eitel ist, nicht hier drin, aber dort trifft er Armin , den gelernten Maurer,der seinerzeit gesagt hat, er könne Haare schneiden -mittlerweile hat er es gelernt. Aber seine Hauptqualitäten liegen im Geschichten erzählen. Paul kann ihm stund
nlang zuhören.

"Sie haben Termin heute", sagt der Schließer in gelangweiltem Ton beim ersten Aufschluß. Paul streckt den Teller hin, um die zwei Scheiben Weißbrot, den Margarinewüfel und das Töpfchen Marmelade zu empfangen. "Sie haben Termin heute", wiederholt barsch der Schließer. Paul hat in der Zwischenzeit eine Kelle Muckefuckkaffee in seine Schüssel erhalten, geht ruhig einen Schritt auf den Schließer zu: "Und was kümmert es sie". "Ich meine nur", hört Paul, als er sich wieder einschließen läßt. Er kann diesen Schließer nicht ab. Vor einem halben Jahr hatte er ihm einmal die Freistunde um 5 Minuten gekürzt und sich anschließend breitbeinig hingestellt: "Hier geht es nach meiner Uhr, Sie können sich ja beschweren". Beschwerden bringen nichts,( so auch in diesem Fall, der Anstaltleiter hatte ihm geschrieben: "Da sich unsere Vollzugsangestellten grundsätzlich dem Strafvollzugsgesetz verpflichtet fühlen, haben sie sich diesmal auch daran gehalten", war die intelligente Begründung) Beschweren ist nur ein Sport -bindet die Kräfte der Anstalt. Bei Paul blieb das Gefühl zurück, Recht zu haben, aber nicht Recht zu bekommen. Paul hat sich dieses Gesicht gemerkt, dieses Gesicht auf die schwarze Liste in seinem Kopf geschrieben. Die Liste aus der keiner gestrichen wird. Zumindest nicht automatisch.

Um 7,30 Uhr werden sie ihn holen. Auch wenn er erst nachmittags Termin hätte, würden sie ihn trotzdem so früh holen und in die 1qm große Wartezelle stecken. Eigenartig, das hat er sich früher nicht vorstellen können, daß er sich nach seiner Zelle - seinem Schneckenhaus - zurücksehnt. Paul frühstückt gemütlich.Sich Zeit zu nehmen,hat er hier glernt und mittlerweile lieb gewonnen. Er weiß nicht, ob er sich an die Hektik draußen gewöhnen kann oder will. Hier kann er sich darüber Gedanken machen, vor welchen Karren er gespannt worden ist und welchen Karren er überhaupt ziehen will. Zugegeben, die Entscheidungsmöglichkeiten sind sehr beschränkt, aber was nutzt ihm eine Vielfalt, wenn aufgrund von Hektik Zufallskriterien dem Menschen die Entscheidung abnehmen.

Der Schlüssel sticht ins Schloß, und der Schließer ruft: "Termin!". "Mal sachte Meister", bremst Paul den Elan. Die Gefangenen werden vorne an der Zentrale, wo alle Flügel sternmässig sich einen, gesammelt. Paul blickt in die Runde und ist über die Vielfalt erfreut: Der eine hat seinen Smoking samt Schlips ausgegraben, während andere mit ihrer Kleidung audrücken: "Wenn ihr mich schon hinrichtet, dann möchte ich zumindest keinen ordentlichen und erst recht keinen schönen Anblick hinterlassen." Nervös und gereizt sind sie alle. Manche machen einen selbstbewußten Eindruck: "Was könnt ihr mir schon", bis hin "ihr gehört auf die Anklagebank".Dann gibt es die opportunistische Haltung mit dem demütigen Blick "Ich bin unschuldig Herr Richter ". Auch Zyniker sind darunter. Ein Schließer schließt sie durch zwei Schleusen, zweimal abgefiept und abgetastet - nein, keiner von den Gefangenen hat eine Maschinenpistole dabei - bevor sie allesamt in einer Wartezelle zwischengelagert werden. Kurze Zeit später wird Paul durch etliche Kellerbewölbe direkt in den Gerichtssaal geführt - mit einer Acht gefesselt.. Jedesmal ist Paul von neuem fasziniert von den wunderschönen Kellergewölben, und er schwärmt von einer Revolution, wonach dieses Gebäude einem sinnvollen Zweck zugeordnet werden könnte- hieraus eine große Wohngemeinschaft zu machen, das wäre sein Traum. Während ihm die Handschellen abgenommen werden, suchen seine Augen nach seinem Anwalt. Paul blickt in ein optimistisches Gesicht . Auf den Zuhörerbänken sitzen viele junge Menschen auf wenig Plätzen. Die Stimmung ist gut und wird auch nicht unterbrochen durch die sanfte Stimme der Richterin, die entschlossen , unter Androhung, die Zuschauer zu räumen, um Ruhe bittet. Nachdem die Richterin Paul mit der Verlesung seiner Personalien und seiner Bestätigung ihn als den Angeklagten identifiziert hat, liest ein Staatsanwalt - der in einem solch jungen Alter ist, daß er Pauls Sohn hätte sein können, aber glücklicherweise nicht ist- die Anklageschrift vor. Seine Stimme klingt rauh und unbeteiligt. Für einen Moment ertappt sich Paul bei dem Gedanken, in einem falschen Film zu sein, denn der Staatsanwalt sagt etwas von schwerem Betrug mit niederer Absicht. Die Richterin fragt in einem verständnisvollen Ton, ob er etwas über seine Tat sagen wolle. Er verspürt ein starkes Bedürfnis wenigstens der Richterin zu erklären..., als sein Anwalt für ihn spricht: "Mein Mandant macht von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch". Paul ärgert sich über sich selber, denn beinahe wäre er auf diesen Drang, verstanden werden zu wollen, hereingefallen. Dabei sagt er immer seinen Mitgefangenen: "Zu gestehen, was sie nachweisen können, das ist dumm. Denn hast du erst einmal zu einem Teil etwas gesagt, kann der Richter im Rahmen seiner richterlichen Beweiswürdigung sich alles zusammenreimen, wie er es gerade braucht. Hast du von deinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht, geht das nicht so einfach.

Paul lehnt sich zurück, betrachtet den Film von einer anderen Seite: "Der Staatsanwalt" denkt er, "ist sicher trotz seines jungen Alters schon Familienvater. Ein treu sorgender Familienvater - fast alle Folterknechte sind fürsorgliche Familienväter. Die Richterin scheint sich in verschiedenen Rollen wohl zu finden. Privat geht sie sicher in der Frauenrolle auf." Vorhin hat Paul die Schließer über sie lästern hören. Sie hat in den untersten Justizschergenkreisen den Spitznamen Miss Piggy von der Muppets Show.

Paul ertappt sich dabei, die Richterin lautstark zu verteidigen, weil er es haßt, daß eine Gruppe von Menschen über jemanden, der nicht dabei ist, herzieht. Für einen Moment hat er Mitleid mit einer Richterin.

Aber schon schnell fängt er sich wieder, und solange sie bei der Richterausbildung seine Grundforderung - daß Menschen, die über Tod und Leben entscheiden, wenigstens ein Jahr im Knast gesessen haben müßten - nicht aufgenommen haben, solange ist das Richteramt für Paul kein ernstzunehmender Berufsstand. Und die Menschen nur Marionetten.

Aber selbst, wenn er wollte, wie könnte er diesen Menschen erklären, daß das mit dem Segelboot sein Leben verändert hat: vorher war er eine Gefangenenummer, jetzt zollen sogar die Schließer ihm Respekt. Vorher hatte er sich fast in sein Schicksal gefügt, jetzt hat sich sein Melanom zurückgebildet. Etwas erklären zu wollen, was sie eh nicht verstehen können, scheint ihm, wie um Gnade zu winseln.

"Ein Jahr auf drei Jahre Bewährung", spricht die Richterin im Namen des Volkes. Während Paul noch darüber nachdenkt, warum die Juristen ob in der Kaiserzeit, in der ersten Republik, dem Nazi-Regime oder der zweiten Republik, immer das Volk vergewaltigen, um ihr Unrecht abzusegnen, erhält er 10 tage Ordnungshaft, wegen "Ungebühr vor Gericht". Er war bei der Urteilsverkündung wieder nicht aufgestanden: "Diesen Popanz auf der Stange grüße ich nicht", hatte er noch im Gerichtssaal gesagt und sich dabei gedacht: "Die zehn Tage mache ich mit einer Arschbacke ab. Was sind 10 Tage im Vergleich zu dem Gefühl, erhobenen Hauptes diese Hinrichtungsstätte zu verlassen." Er hat genau nachgerechnet und festgestellt, daß er in seinem Leben jetzt mit diesen zehn Tagen ganze zwei Monate Knast bekommen hatte, immer wieder wegen nicht Aufstehens vor Gericht. "Bei einem halben Jahr mache ich ein großes Fest", verspricht Paul.

9

"Verstehe mich recht" schreibt Rosa, "ich möchte dich nicht kritisieren, ich möchte dich verstehen. Seit zwanzig Jahren existiert das Strafvollzugsgesetz. Seit zwanzig Jahren kämpfen wir darum, daß das endlich realisiert wird, was wir damals als Utopie in Gesetze gegossen haben: der offene Vollzug soll zum Regelvollzug werden. Und du lehnst plötzlich den offenen Vollzug ab. Ich habe das Gefühl ,da ist etwas, was ich nicht begreife, was ich aber sehr wohl begreifen möchte.."

"Ihr wolltet mit dem Strafvollzugsgesetz das Beste", antwortet Paul ,"aber jetzt nach 20 Jahren ist es nicht nur Zeit den Wortlaut des Gesetzes zu betrachten, sondern Bilanz zu ziehen.

Das Gummigeschoß Strafvollzugsgesetz hat das Ziel, Menschen zu brechen, weil die Kannbestimmung Strafvollzugsgesetz die Rechtssicherheit der Gefangenen unterhöhlt.

Früher gab es eine Solidarität unter den Gefangenen. Hier standen die Gefangenen, da die Schließer. Es gab innerhalb der Organisationen Machtkämpfe, aber es hat keiner den anderen gelinkt. Heute gibt es drei verschiedene Arten von Vollzug:

Einzelhaft-Normalvollzug-Offener Vollzug.Ein paar Zahlen dazu: im Normalvollzug befinden sich in Berlin 4000 gefangene Menschen, im offenen Vollzug 200. Du kannst dir vorstellen, daß der Run auf diese offenen Haftstellen groß ist. Und die Anstalt läßt sich das bezahlen: wer einem anderen Gefangenen eine Lampe baut (also z.B. Shit auf die Zelle legt und dann zum Sicherheitsbeauftragen geht und sagt, der Gefangene hat...)der wird mit offenem Vollzug belohnt. Das führt dazu, daß eigentlich deine Mitgefangenen deine Hauptfeinde sind.

Hier in der Einzelhaft ist das fast wie früher. Neulich bin ich während des Hofgangs gelaufen - entgegen der ausdrücklichen Anordnung der Schließer. Es wurde Alarm gegeben, und die Sicherheitstruppe brachte mich zurück in meine Zelle. Es passierte nichts. Die Schließer sind einfach vorsichtig bei mir, weil ich Kontakte nach draußen habe. Nach der Freistunde klopfte Erich an meine Tür und fragte,ob alles o.k. ist. Die Schließer zerrten ihn weg, und er riskierte durchaus viel. Das sind Momente, die mir wichtig sind, die ich im offenen Vollzug nie erleben könnte. Übrigens, Erich ist draußen Zuhälter. Wenn wir uns draußen treffen würden , wir würden uns nicht ansehen - hier sind wir eine Familie.

Wenn der offene Vollzug zum Regelvollzug (sowie im Strafvollzugsgesetz vorgeschrieben) geworden wäre, dann wären im offenen Vollzug nicht nur Radfahrer (nach oben buckeln und nach unten treten), dann hätte der offene Vollzug eine ganz andere Funktion innerhalb des Strafvollzugs, dann wäre ich sofort dabei. Aber auch jetzt, ich glaube du hast mich falsch verstanden, ich lehne den offenen Vollzug nicht ganz ab, wenn sie mich dahin verlegen. Ich sehe es vielmehr als Anerkennung, sie wollen mich hier los werden und versuchen mich zu bestechen. Aber ich mache keine Verrenkungen, um diesen offenen Vollzug herbeizuführen. Ich würde den offenen Vollzug erdulden ohne Kompromi
se. Und wenn ich ehrlich bin, so ganz unglücklich bin ich im Moment nicht. Ich bekomme täglich von dir einen Brief, habe Zeit zurückzuschreiben, werde versorgt, habe Mitkollegen, die mich anerkennen, denen ich mich verbunden fühle - viel mehr brauche ich nicht."

10

"Besuch", schreit der Schließer in Pauls Zelle. "Haben sie auch ihre Straferkarte", wird Paul gemaßregelt. Der Schließer schließt durch mehrere Gitter zum Sprechzentrum.10 Mann sind sie, die in einer 4qm großen Zelle eng gedrängt darauf warten abgeführt oder vorgeführt zu werden. Die einen haben ein immens großes Redebedürfnis - eine halbe Stunde Besuch in zwei Wochen ist wenig. Vorher hat man kein Redebedürfnis, danach spürt man, was einem fehlt. Die anderen versuchen sich krampfhaft zu konzentrieren, damit sie nichts vergessen. Und immer wird Frischfleisch in die Zelle gequetscht.

Nach einer viertel Stunde wird Paul in den Besucherraum geführt. Ein großer Raum in dessen Mitte ein gewichtiger Schließer den Besuch verwaltet. "Nr.4", sagt er und Paul muß alles, was er hat, in das Schließfach einschließen. Danach wird er abgefiept und abgeklopft, bevor er an den Tisch 4 entlassen wird. Rosa ist schon da. Bei der Umarmung flüstert sie ihm zu: "Ich beginne langsam dich zu verstehen."

"Für mich war es schwer umzudenken", fängt Rosa an, "ich hatte am Anfang mir als Richterin die Aufgabe gestellt, die Gesetze nach bestem Wissen und Gewissen anzuwenden. Bis ich merkte, daß sie als Gesamtpaket die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher machen und ich mußte mir die Frage stellen, ob ich nicht, ohne es zu wollen, in dem Sinne der Herrschenden ein nützlicher Idiot bin. Ich habe z.B. Bei Vergewaltigungen versucht, so hart zu urteilen, wie bei anderen Gewalttaten. Ich hatte das Gefühl ich müßte gegenüber den männlichen Kollegen die Schwere der Tat beweisen und dem Opfer damit auch eine gewisse Genugtuung geben. Erst später habe ich begriffen, daß ich im Grunde genommen Täter züchte, denn im Knast lernen sie sicher nicht, mit Menschen umzugehen. Und noch eins habe ich erst später begriffen: indem ich die Vergewaltiger verurteile, schaffe ich den Freiraum für die Pornoindustrie, die Illustrierten, die mit dem Bild der Frau das große Geschäft machen. Bei einigen dummen Menschen führt das zu Gewalttaten, bei intelligenteren nur zur Rechfertigung ihrer Diskriminierung. Über diese Erkenntnis bin ich an Krebs erkrankt. Brustkrebs hatte ich, Totaloperation. Das hat mein Leben grundlegend geändert. Heute ist der Krebs gestoppt, und ich bin Rentnerin. Und jetzt, mit Abstand, hat sich meine Haltung zur Justiz geändert: ich empfinde z.B. kein Bedürfnis mehr, die alten DDR Funktionäre zur Rechenschaft zu ziehen. Mein Prinzip ist: solange die Leute in Amt und Würden sind, möchte ich mit allen Mitteln gegen ihre Machenschaften kämpfen, wenn sie ihre Macht verloren haben, möchte ich nicht strafen, um zu rächen. Zumal ich jetzt schon wieder das Gefühl habe, daß die jetzigen Machthaber ein Interesse haben von sich abzulenken, und die alten Machthaber zu Sündenböcken degradieren. Nicht, daß ich Mitgefühl mit den alten Machthabern hätte, aber ich möchte den neuen Machthabern einen Strich durch ihr Rechnung machen, ich will sie anklagen, solange sie noch in Amt und Würden sind."

11

Wieder hatte Paul die Gelegenheit genutzt, die Geschichten vom Friseur Armin zu hören. "Ein hoher Preis", dachte Paul als er die am Boden liegende Haarpracht sah. "So machst du bei deinem Zweidrittel-Termin einen ordentlichen Eindruck", hatte Armin gesagt, er hatte nicht gemerkt, daß es Paul peinlich war, als er von dannen zog und in seine Zelle eingeschlossen wurde.

Bei brütender Hitze mußte Paul von morgens acht Uhr bis nachmittags vierzehn Uhr in diesen 1qm großen Zellen warten. Als er endlich in das Richterzimmer geführt wurde, konnte er nur stottern. "Sie wollen also entlassen werden", sprach der Richter von oben nach unten. Dieser Richter ist dafür verantwortlich, daß Berlin mit nur 7,9% aller Entlassungen nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe an unterster Stelle liegt, fällt es Paul ein. Selbst seine eigenen Reihen, angefangen vom Justizsenator, mögen ihn nicht, aber keiner hat das Gefühl, diesem Menschen ein Bein stellen zu können. Er konnte es sich sogar leisten,zu einem Gefangenen zu sagen: "Wie, sie wollen entlassen werden?. Sie sehen doch schon aus wie ein Verbrecher!"

"Es liegt nicht in meiner Hand" antwortet Paul freundlich aber bestimmt.

"Sie bekommen schriftlich Bescheid", lehnt sich der Richter zurück.

12

"Kennst du die Tornados", fragt Rosa auf einem dieser alle zwei Wochen stattfindenden halbstündigen Besuche. Paul nickt heftig. Es war Ende der siebziger Jahre seine Lieblingskabarettgruppe. "Die Osterinsel", "und die Arbeitsgruppe Basis Überbau", fällt ihr Paul mit leuchtenden Augen ins Wort. "Das war unser Traum vom Altwerden, unsere Vorstellung mit zwanzig: Tagsüber mit allen Leuten, die an einer menschlichen Gesellschaft mitgebastelt hatten, die Insel genießen, und abends in der Basisgruppe uns konstruktiv streiten."

"Diese Osterinsel haben wir gekauft", Rosa macht eine kleine Blickpause, "nur ein kleines Stück! Wir haben ein Haus gekauft, in dem wir alle wohnen, mitten in Keuzberg, aber 50 m vom Park und anschließendem Wald,: Paterre wohnt Gudrun, Aussteigerin aus der RAF, hatte in der DDR Unterschlupf gefunden, wurde dann nach der Wende ausgeliefert und bekam nur deswegen eine Zeitstrafe, weil sie mit Aussagen ihre ehemaligen Freunde belastete. Sie trägt schwer an dieser Last. Ich mag sie sehr gerne, sie hat so eine warme Ausstrahlung und ist im Umgang sehr sensibel." "Die Erfahrung habe ich öfters gemacht", wirft Paul ein, "die Leute, auf die ich mich politisch immer verlassen konnte, von denen war ich menschlich sehr enttäuscht, die aber ,die ich wegen ihrer politisch opportunistischen Haltung bekämpft habe, habe ich menschlich schätzen gelernt. Mit der Zeit wurde mir die zweite Gruppe lieber". Paul merkte, daß er Rosa nicht nur unterbrochen ,sondern auch an ihr vorbeigeredet hatte, deshalb hielt er inne und bat Rosa weiter zu erzählen. "Im ersten Stock wohnt Alfred von der KPD, neben Claudia von den Grünen. Im zweiten Stock wohnt Erwin vom Ökoladen und Sonja von der PDS. Im vierten Stock wohne ich mit meinen zwei schon erwachsenen Kindern. Im fünften Stock wohnen Anja und Mira. Sie haben eine Beziehung miteinander. Anja arbeitet im Frauenhaus.Im Seitenflügel wohnt Monika, sie ist über siebzig und hat sich gerade von ihrem Mann getrennt, nach 50 jähriger Ehe: "Daß ich das geschafft habe!" sagt sie des öfteren und: "es ist einfach ein herrliches Gefühl, die Musik anstellen zu können, wann ich will, nackt durch die Wohnung laufen zu können, einfach auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen".

Im dritten Stock sind unsere Gemeinschafträume, aber da ist extra ein Zimmer freigeblieben für dich, wenn du willst. Wir wollen alle, daß du da einziehst, sogar Anja und das ist für eine Lesbe, zumal sie dich nie gesehen hat, schon eine tolle Aussage. Das hat nur mittelbar damit etwas zu tuen, daß du Mira geheiratet und ihr damit ein Leben ermöglicht hast. Wir haben einfach Lust mit dir streitend alt zu werden.Im Hof hat Alfred seine Garage - in den Boden gebaut. Wir wollten eigentlich mal Wohnen mit Arbeiten verbinden, ist leider im Ansatz stecken geblieben. Alfred wohnt im Haus, oder mehr in seiner Werkstatt. Auf jeden Fall schraubt er da 16 Stunden am Tag. Jede Schraube macht ihn einsamer. Früher hatte er wohlwollend den Beinamen Maulwurf, heute heißt er nur noch Blockwart, weil er immer die Autos, die nachts vor unserer Einfahrt parken, abschleppen läßt. Manchmal muß er eine Stunde, manchmal sogar in klirrender Kälte auf die Bullen warten, bevor die Autos endlich abgeschleppt werden und er seine Ente in der Garage parken kann. Neulich hat er sogar jemandem eine tote Ratte in die Wohnung geworfen, er hatte die Ratte eigenhändig erschlagen und eine Woche in seinem eigenen Kühlschrank gelagert."

Paul hat zwar die Geschichte mit Alfred noch gehört, aber nicht aufgenommen. Er ist sprachlos, stammelt nur ein "ja" und ist erleichtert als der Schließer ihn erlöst: "Die Sprechstunde ist vorbei". Als er abgeführt wird, fällt ihm das Gedicht von Nazim Hikmet ein, das Hannes Wader vertont hat: "Einzeln und frei und brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht!"

13

"Machen sie sich fertig, Sie werden in einer Stunde abgeholt", ruft der Schließer bei der Frühstückausgabe, "ich meine sie werden heute entlassen", korrigiert er sich. Tausendmal

hat sich Paul diese Entlassung vorgestellt, da war aber ein Satz, der in der Realität fehlt: "Ihr Richter hat gestanden".

Der Schließer, der Paul in die Wartezelle verfrachtet, gibt Paul zum Abschluß die Hand: "Ich werde sie nicht wiedersehen, viel Glück". Paul freut sich darüber, daß der Schließer dies nicht als Frage und nicht als frommen Wunsch formuliert hat.

Eine Stunde später wird er zur Hauskammer in den Keller gebracht. Paul packt seine Sachen in seinen Rucksack und wird zur Entlassungsstelle gebracht.

Feine Pinkel sitzen in einem Büro schon fast an der Schwelle nach draußen. "Sie müssen hier unterschreiben", sagt in höflichem Tonfall der Beamte. Paul soll bestätigen, daß er völlig gesund entlassen wurde. "Das weiß ich doch nicht", brubbelt Paul, "und im übrigen, sagen Sie mir einen vernünftigen Grund, warum ich unterschreiben soll. Als ihr mich verhaftet habt, mußte ich ja auch nicht unterschreiben". "Dann werden sie eben nicht entlassen", sagt der offensichtlich argumentativ bedrohte Beamte. Paul kocht. Da werden die nach Luft ringenden und die Luft schon riechenden Gefangenen noch einmal ein letztes Mal erpreßt: "Dir haben sie wohl ins Gehirn geschissen und vergessen umzurühren", wird Paul ausfallend. "Na nun nicht beleidigen", wehrt sich der Beamte, "na gut dann schreiben wir eben `Unterschrift verweigert`",lenkt der Beamte ein.

An der Sicherheitspforte werden ein letztes Mal die Papiere kontrolliert, und mit den Worten "na denn auf ein Neues" öffnet sich wie ein Sesam-öffne-dich die letzte Pforte.

Paul sucht Rosa.

Rosa findet Pauls Hand und sie schlendern beide über die vielbefahrene Straße. Nach der langen Einzelhaft empfindet es Paul einerseits als wohltuend, Lärm zu hören und Menschen zu sehen, aber auch schnell als eine kaum zu tragende Last. Es ist ihm, als hätte er einen Glaskäfig um sich herum, den er nicht mehr los wird.

"Gehen wir noch in den Park", finden Rosas Augen die von Paul. "Gerne, aber ich möchte auch bald nach Hause, ich bin müde!"




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