1. literaturpreis 1990



Frühjahr 1990 in Hamm:

zum ersten Mal wird der Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene verliehen. Aus 130 Texten werden 25 in der Anthologie:"Risse im Fegefeuer", Reiner Padligur-Verlag 1989,

ISBN 3-922957-22-6,Preis 16,80 DM, veröffentlicht.

Aus dem Vorwort des Schriftstellers Josef Reding (Jurymitglied):"...der Gedichtteil von Ralf-Axel Simon hätte auch in einem "normalen" Literaturwettbewerb unter professionellen Schriftstellern eine Chance auf einen der vorderen Plätze gehabt."


Meine Texte:



HORROR-TRAUM

MANCHMAL

TRÄUME ICH

MIT MEINEM RICHTER

MEINE ROLLE

ZU TAUSCHEN

ERSCHRECKT

WACHE ICH AUF

UND

BIN ERLEICHTERT



ZWEIFEL

WERDE ICH MICH

NACH ZWEI,DREI ODER VIER

JAHREN

ISOLATIONSHAFT

WIEDER

ERKENNEN?



WERDEN MICH

MEINE FREUNDE

DANN NOCH

MÖGEN?



WERDE ICH MICH

DRAUßEN

ZURECHTFINDEN?



BEIM ESSEN FASSEN

SEHE ICH

MEINEN ZELLENNACHBARN

ER HAT

LEBENSLÄNGLICH





BESUCH

VORHER:

ICH RENNE

3M VOR

2M ZUR SEITE

HIN UND HER

HER UND HIN

IMMER UMS KLO HERUM

DRUCK AUF DIE BLASE

ICH KANN NICHT

DABEI:

DER EISBROCKEN

TAUT AUF

ZU LANGSAM

ENDLICH:

DIE STIMMEN SIND SCHÖN

ICH KANN SPRECHEN

UND

"DIE HALBE STUNDE IST VORBEI"

EINE LETZTE UMARMUNG

ICH WILL

DICH

FESTHALTEN

NACHHER:

SCHMERZEN

IN MIR

NEBEN MIR

VOR MIR

UND DOCH:

DER TAG HAT

ZWEI TEILE

BEKOMMEN



TOTEN-SONNTAG

SONNTAG

TROSTLOS

KEINE POST

KEIN ARZT

KEINE CHANCE

MEINE ZELLE

ZU VERLASSEN

ABER

HEUTE

DER RUHETAG

DER SCHLÜSSELMACHT:

SIE SCHREIEN NICHT

AUF DEM GANG

SIE FAHREN NICHT

MIT IHREN SCHLÜSSELN

AUF DER HEIZUNG ENTLANG

SIE FILZEN KEINE ZELLEN



NORMAL-VOLLZUG

23 STUNDEN

ALLEIN

18 MONATE

LANG

KOPFSCHMERZEN

DER SCHLIEßER SCHREIT:

"DAS IST HIER NORMAL"

DER ANSTALTSARZT SAGT:

"DAS IST HIER NORMAL"

DER RICHTER BESTÄTIGT:

"DAS IST HIER NORMAL"



MAN KANN NICHT SAGEN

SIE WÜßTEN NICHT

WAS SIE TUN:

NORMAL-VOLLZUG



SPRACHE

DEN HAFTBEFEHL

NENNEN MEINE BEWACHER

LACHEND

MIETSVERTRAG

DIE ZELLE

ZIMMER IM HILTON-HOTEL

DIE STRAFERKARTE

PERSONALAUSWEIS



UND WERDEN WÜTEND

WENN ICH SIE

ALS SCHLIESSER

BEZEICHNE



PROZEß-TERMIN

WOCHENLANG GEFIEBERT

ENDLICH

AUS DER ISOLATION

AUFGETAUCHT



HINTER DER VERSCHLOSSENEN TÜR

EURE STIMMEN

ICH MÖCHTE EUCH SEHEN

EURE WÄRME SPÜREN



TERMINVERSCHIEBUNG

AUS DER AUFGEBLASENEN HOFFNUNG

STRÖMT DIE LUFT HERAUS



ABER IHR WARD DA

DIESES GEFÜHL

MÖCHTE ICH

NICHT MISSEN



SELBST-MORD

GEFANGENE

VERTEILEN DAS ESSEN

GEFANGENE

BAUEN DIE SCHLÖSSER

GEFANGENE

SCHMIEDEN DIE GITTER

GEFANGENE

MAUERN ZELLE UM ZELLE



PARAGRAPH 3 STRAFVOLLZUGSGESETZ:

DAS LEBEN

SOLL DEN LEBENSVERHÄLTNISSEN

DRAUßEN

SOWEIT WIE MÖGLICH

ANGEPAßT WERDEN



ENDE DER NACHT

Dutta, der Pakistani, zwei Zellen weiter, wimmerte die ganze Nacht vor Schmerzen. Laute, die selbst diese 50 cm dicken Verließmauern durchdrangen und sich wie Messerstiche in Karls Hirn festsetzten, bevor sie ohne Echo verhallten. Aufgepeitscht lief Karl in seiner Zelle hin und her. Gelegentlich sahen die Beamten nach Dutta. "Du lebst ja noch", meckerte einer, und Karl hörte den erbarmungslosen Knall der zuschlagenden Tür. Sie hatten keine Lust, sich in ihrer Skatrunde stören zu lassen. Schon gar nicht von einem Ausländer.

Gegen Morgen verlegten sie Dutta. Trotzdem konnte Karl kein Auge mehr zu tun. Er dachte an Achmede, dessen Akte sie vorgestern geschlossen haben:"nach Nachtverlegung an einer einfachen Blinddarmendzündung verstorben".

Fast erleichtert hört Karl aus der Ferne den stechenden Schritt, der sich, mit dem Klappen des Spions von Zellentür zu Zellentür tastend nähert:5.30 Uhr, der Knast-Tag beginnt. Endlich! Diese einsamen Nächte sind am schlimmsten für ihn. Karl schließt die Augen und wartet, gleich wird der Beamte seine Zelle erreichen.

Das Scheinwerferlicht wird von außen angeschaltet. Das Grelle schmerzt selbst durch die geschlossenen Augen. Karl hört das Klappern des Spions und reagiert nicht. Der Schließer bummert mit voller Kraft an die Tür. Trotz aller Konzentration fährt Karl hoch. Wütend pfeffert er seinen Schlappen gegen diese panzerschrankähnliche, nur 1,75m hohe Tür.

Manchmal weiß er nicht, was ihn mehr ärgert: dieses Gefühl, wieder versagt zu haben, oder die Wut über die Menschen, die in altbewährter Befehlsabhängigkeit ihn in den Käfig sperren. Zurück bleibt nur das Nachklickern des Spions und dieser stechende Schritt, der sich unter Schlüsselklappern wieder entfernt.

Erst jetzt registriert Karl, warum seine Augen so weh tun. Der Schließer hat heute -Versehen oder Schikane?- nicht die vierzig-Watt-Birne angeschaltet, sondern den Scheinwerfer über der Stahltür, das Licht für die Flucht- und Selbstmordgefährdeten. Alle zwei Stunden, in besonders schweren Fällen sogar alle halbe Stunde, werden sie damit geweckt, wie Alfred in der Nachbarzelle, dem der Anstaltsarzt den schwarzen Punkt verschrieb. Das Zeichen für die Schließer, viermal während der Nacht das Scheinwerferlicht aufzublenden und laut an die Zellentür zu schlagen. Seit etwa einem Monat beobachtet Karl, wie Alfred von Tag zu Tag zerfällt. In seinem Gesicht breiten sich Wut, Bitterkeit und Apathie aus.

Karl richtet sich auf, seine Füße berühren den mit dunkelbrauner Farbe angestrichenen Betonfußboden. Er spürt nur eisige Kälte. Die vier zentral geheizten Rippen geben viel zu wenig Wärme ab um selbst diesen kleinen Raum warm zu halten. Zumal das Fenster nicht richtig schließt und im Winter sowieso des öfteren gespart wird. "Kälte und Wärme gleichen sich aus", hatte ihm einmal ein Schließer grinsend erklärt, als er moniert hatte, daß die Heizung im Sommer auf Hochtouren lief. Wenn er nicht tatsächlich so fröre, hätte er über diese Logik vielleicht lachen können.

Karls Augen wandern umher, suchen nach etwas Erfreulichem, wofür das Aufstehen lohnt. Sie bleiben angewiedert an `Bello' hängen, direkt neben der Tür, vom Spion aus gut einsehbar. Er haßt dieses versyphte Klobecken, auf dem nur ein abgegriffener Holzdeckel liegt. Daß eine Klobrille zum unerreichbaren Luxus wird, hätte er sich früher niemals denken können. Das Kacken vollbringt er im gebeugten Stehen, was bei aller Verkrampfung wenigstens eine Gymnastikübung ersetzt.

Oberhalb von `Bello', fest in die Wand eingemauert, befindet sich ein kleiner Knopf, das Notsignal oder im Knastdeutsch `die Fahne'. Darunter hat ein Gefangener geschrieben:"Willst du den Schließer ficken, mußt du diesen Knopf hier drücken". Daneben steht:"Willst du Tabak haben, mußt du den Kellner fragen". Die auf der abgebröckelten Farbe der Wände dokumentierte Wut, Verzweiflung, Freude verleiht Karl manchmal die Kraft, trotz Einzelhaft nicht alleine zu sein, auch, weil er weiß, daß der Gefangene achthundert DM für die Renovierung der Zelle bezahlen muß, bei einem durchschnittlichen Stundenverdienst von einer Dm.

Über dem Bett erblicken Karl`s Augen seinen mit Zahnpasta geschriebenen Lieblingsspruch von Nazim Hikmet:"es geht nicht darum gefangen zu sein, sondern darum, sich nicht zu ergeben!" "Oh,Mann!", schießt es ihm durch den Kopf. Manchmal ist es schwer, die Nackenschläge wegzustecken, dieser so tötenden Eintönigkeit neuen Mut entgegenzusetzen und nicht den in die Wand eingelassenen Spiegel, das kleine Bücherbord, den Stuhl, den Tisch, den Schrank, sein Bett in Einzelteile zu zerlegen.

Karls Augen streifen den blauen Behördenbrief auf seinem Schreibtisch. Eine Rechnung der Justizkasse:917,10 DM soll er dafür zahlen, daß sie ihn zu 16 Monaten Freiheitsentzug verurteilt haben. Gestern, beim Erhalt der Rechnung, stieg noch diese von Tag zu Tag zunehmende Wut in ihm hoch. Heute hat er sich damit abgefunden. Direkt neben dem Brief liegt seine Versicherung, eine Rasierklinge. Sein Vorgänger hat das Fensterkreuz genommen, generalstabsmäßig geplant, denn auch ihn hatten sie nachts alle zwei Stunden auf ein Lebenszeichen hin kontrolliert. Dabei hatte er seinen Abgang mitgeteilt: mit einem Pfeil zum Fensterkreuz schrieb er auf die Wand "zum Henker". Das eingeleitete Ermittlungsverfahren, wegen Sachbeschädigung, war ein Jahr später eingestellt worden, weil es sich, wie das Gericht meinte, "in der Hauptsache erledigt", hätte. "Noch habe ich mich unter Kontrolle, noch habe ich die Hoffnung, einmal entlassen zu werden. Aber wenn ich lebenslänglich hätte...", denkt Karl grimmig.

Karl steigt auf den Stuhl, öffnet das Fenster direkt unter der Decke mit der Dreifachvergitterung und genießt den Ausblick auf den noch dunklen Hof. Bis vor kurzem lag er auf einer dieser `Sicherheitszellen', wo das Fenster zusätzlich mit einem engen Drahtgeflecht und einer dicken Metallplatte mit lauter kleinen Löchern versehen ist. Dreck und Staub verwandeln das ursprünglich durchsichtige Glas in eine Art Milchglas -diese `Erfindung'ist nicht zu putzen- was auch tagsüber künstliche Beleuchtung notwendig macht. Die Scheinwerfer leuchten auf das alte Wärterhäuschen im Hof, der durch fünf Meter hohe Mauern mit zwei Rollen Natodraht darauf eingegrenzt ist. Karl hat sich umgehört, immer wenn ihn in Schüben anfallartig Fluchtgedanken angesprungen haben:Moabit soll eine der sichersten Anstalten in Europa sein. Überall am Rand sieht er Ratten flitzen und er freut sich darüber, daß diese kleinen Biester ihren Lebensraum in dieser `Sicherheit und Ordnung' behaupten.

"Kontaktaufnahme mit anderen Gefangenen ist verboten", hört Karl einen Schließer hochschreien. Sein Zeigefinger schnellt an seine Stirn, bevor er das Fenster schließt. Beim Heruntersteigen sieht er, wie der Schließer , die Nummer die außen unter seinem Fenster steht, durch das Funkgerät spricht. In ihm steigt diese Angst hoch. Er ist schon einmal bei seiner Einlieferung verprügelt worden. Damals hatte er am Fenster geredet, der Schließer hatte sofort Alarm gegeben. Angeblich hatte Karl ihn angegriffen. Nun gilt es, viel Zeit wird ihm nicht bleiben, bis sie kommen. Karl nimmt den Holzdeckel vom Klo ab und setzt sich auf den versyphten Beckenrand. "Einen nackten Mann mit heruntergelassener Hose werden sie doch nicht verprügeln!" versichert er sich monoton. Gleich werden sie mit fünf Schließern - die Nacht über bis zum ersten Aufschluß dürfen sie nie alleine die Zelle betreten- sich vor ihm aufbauen mit ihren Bäuchen, nach Alkohol stinkend, werden ihn provozieren, ihn buffen. Und wenn er verspricht, es nicht noch einmal zu tun, nur seinen Stuhl herausnehmen!


Karl hört, wie der Riegel zurückgeschoben, der Schlüssel ins Schloß gestochen wird. Ein kleiner, schmächtiger Mann in grauer Dienstuniform betritt seine Zelle. Karl hat ihn noch nie gesehen und leicht irritiert glaubt er, in seinen lebhaften Augen Verlegenheit zu spüren. "Der kann noch nicht lange bei Justizia sein Brot verdienen", schießt es ihm durch den Kopf. "Sie haben am Fenster geredet. Verstehe ich ja, aber der Kollege im Hof nimmt es sehr genau. Halten sie sich zurück, sonst kann ich Ihnen meine Kollegen nicht ersparen!". Und bevor Karl seine Verduztheit überwunden hat, verschwindet der Beamte.

Draußen auf dem Gang hört Karl das Öffnen und hastige Schliessen einer Nachbarzelle, dabei ein knappes "Scheiße!", gefolgt von hektischem Rennen auf dem Gang und dem lauten Ruf "Cäsar 2, Hänger!". Nach einer Weile rennen mehrere Schließer zu Mohameds Zelle. Sie öffnen die Tür und von den scharrenden Geräuschen ahnt Karl, daß sie erst jetzt den Gefangenen vom Fensterkreuz abnehmen. Etwas später weiß Karl von dem Aufeinanderschlagen von Eisen auf Eisen, daß die Sanitäter mit der Bahre eingetroffen sind. "Sag dem Popen Bescheid, er soll die Familie benachrichtigen und den Richter anrufen, wegen der Ersatzfreiheitsstrafe!". "Jetzt ist wenigstens Ruhe", hört Karl die Schließer meckern, "der hat mindestens fünfmal die Fahne geschmissen, heut Nacht. Hab`nachher gar nicht mehr gefragt, was er will. Hab` nur die Fahne noch reingedrückt."

Karl hört an den schweren, trampelnden Schritten, wie sie Mohamed auf der Bahre wegschleppen. Er rennt unruhig in seiner kleinen Zelle hin und her. Es war eine entsetzliche Nacht. Eine von vielen. "Hotelvollzug", denkt Karl bitter.








Am 29. 7. 1990 schreibt Der Tagesspiegel: "...während Ralf-Axel Simons Gedichte in ihrer ironischen Kühle und poetischen Prägnanz sowohl an Gedichte Erich Frieds als auch
an einen häufig in Ingeborg Drewitz`Erzählungen anzutreffenden Tenor erinnern."


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