MM 24/25 10. 2007


(dieser Artikel erschien in zahlreichen ostdeutschen Zeitungen Gesamtauflage:320000)

Ralf-Axel Simon hat einen einzigartigen Schachladen
Ein Leben mit König und Dame
500 Spiele und 5000 Fachbücher stapeln sich in den Regalen
von Dirk Bunsen
In diesem Jahr stand Ralf-Axel Simon ganz oben. Er gewann mit seinen drei Berliner Mitspielern die Schach-Champions-League (CCL) im Fernschach, die sich über fünf Jahre erstreckte und ließ ein russisches team hinter sich. Schon im jahr 2000 war er Berliner Schnellschachmeister, hatte zehn Jahre zuvor in eim hochrangigen Turnier in Lugano, bei dem nur die beiden Schachgiganten Karpow und Kasparow fehlten gegen den Großmeister Reshevski (USA) gewonnen und gegen Larsen (Dänemark) remis gespielt und vor Zehn Großmeistern den zweiten Platz belegt. Schach ist sein Leben. Die Figuren begleiteten ihn durch alle Hochs und Tiefs. Und als der geborene Berliner in den achtziger Jahren wegen seiner linken Gesinnung ins Gefängnis musste, half ihm das Spiel, seine Einzelhaft zu überwinden.Vor siebzehn Jahren richtete er sich in Berlin einen Schachladen ein und hat heute bundesweit die wohn umfangreichste Sammlung an Schachspielen, Schachliteratur und Schachutensilien.

Wurde die Welt um ihn herum zu schlimm, spielte er Schach
Schach ist für Ralf-Axel Simon kein bloßes Hobby. Schach ist sein Leben - und das nicht nur, weil er seit siebzehn Jahren in Berlin einen Schachladen führt. Mit dem Griff zu den Figuren entfloh er der dörflichen Tristesse seiner Kindheit, holte sich ein Stück Lebenssinn in die Knastzelle, trug als vagabundierender Schachspieler zu seinem Lebensunterhalt bei und überwand seine seelischen Tiefs. Heute steht er wochentags in seinem Schachladen, gibt Schachunterricht und fährt am Wochenende zu Wettkämpfen.
Er war alles:König und Läufer, Turm und Bauer , ein "Leibeigener hinter Gittern" dazu.
Der 54-Jährige war ganz unten und weit oben - alles mit den Schachbrettfiguren.
Schon als zehnjähriger Junge begeisterte er sich für das Spielauf den vierundsechzig Feldern.
Sein Vater war es, der ihm das Schach spielen beibrachte. Er nahm an der Arbeitsgemeinschaft Schach in seiner Schule teil und trat mit vierzehn Jahren einem Verein bei, der an den Wochenenden in die große weite Welt bis nach Osnabrück reiste, in dessen Nähe er auf dem dorf groß geworden war. "Ich konnte endlich aus meiner kleinen Welt aussteigen", blickt er zurück. 1972 , in dem jahr, als er nach Berlin gezogen war , holte er seinen ersten Titel , den des Deutschen Mannschaftsjugendmeisters, der während der olympischen Spiele in München gekürt. Er studierte Religionswissenschaften und unterrichtete ein Jahr lang im Westteil Berlins. Aber die Stadt machte aus ihm auch einen politischen Menschen, einen , der nicht gern gesehen war. Wegen seiner linken Gesinnung wurde er vom Schuldienst suspendiert - ein klassisches Berufsverbot. Deshalb arbeitete er als Erzieherin einem Kinderladen , der zu einem Obdachlosenasyl gehörte.
Er gründete die Zeitung "Radikal" und trug Zeitungen aus, um sich zu finanzieren. Das Schachspiel trat in den Hintergrund. Nur manchmal setzte er sich ans Brett und tauchte in seine (Schach)Welt ein.
Doch allein die theoretische und intellektuelle Arbeit in Berlin reichte ihm nicht. Er setzte sich für politische Gefangene und Kriminelle ein, gab das "Knastblatt" heraus, das ihn bald selbst hinter Gitter brachte. Wegen Beleidigung von Polizei und Justiz erhielt er zwei Jahre und vier Monate Gefängnis und saß davon sechzehn Monate ab - ein halbes Jahr in Einzelhaft.
Hier kam ihm seine Liebe zum Schach zugute. "ich formte mir aus Brotresten die Figuren", erzählt er beiläufig, ohne damit zu kokettieren. "Ich analysierte Stellungen und Züge, suchte nach neuen Varianten." bald hatte er einen Mitspieler ausfindig gemacht, mit dem er über das Rohrsystem auf der Toilette Ferschach spielte. "Das waren meine praktischen Übungen zu dem, was ich mir in meiner Zelle erdachte, aber vor allem war es auch eine Möglichkeit, überhaupt mit jemandem zu kommunizieren." So absolvierte er in seinen knapp anderthalb Jahren Gefängnis eine Art Lehre für ein geistiges Handwerk."In einer Sicht waren es ideale Bedingungen, mich zwölf Stunden am Tag mit Schach zu beschäftigen - ohne Ablenkung". Aber letztlich diente das Brettspiel als Überlebungskampf. "Immer, wenn die Welt um mich herum zu schlimm wurde, spielte ich Schach." Auch als später sein Vater starb, lenkte er sich damit ab, nahm sich einige Stunden Auszeit von der Trauer.
Nach seiner Entlassung gründete er das Cafe "Untergrund" und schrieb für die "Taz", bei der er unter anderem die Aktion "Frei-Abos für Gefangene" initiierte, die es heute noch gibt. "Doch irgendwann fühlte ich mich ausgebrannt und beschloss 1988, für drei Jahre in Europa umherzureisen und vom Turnierschach zu leben." Moskau und Lugano waren unter anderem seine Stationen. Zwar kam er über die Runden, wohnte aber im Sommer in einem Zelt und fuhr als Tramper von einem Ort zum anderen. "Auch wenn es eine sehr schöne Erfahrung war, fehlten mir persönliche Kontakte und Gespräche.Es drehte sich alles nur ums Schach."Er kehrte zurück nach Berlin und eröffnete seinen Schachladen.
Nach drei Umzügen hat er nun in Steglitz seinen Platz gefunden. Er scheint angekommen zu sein.
Mit seiner weißen Mähne und seinem langen Bart drüngt er sich durch seinen kleinen, engen Laden. Fünftausend Schachbücher, ob antiquarisch oder neu, ob deutsch - oder fremdsprachig, reihen sich in den Regalen - bundesweit wohl eine einmalige Sammlung. Auch fünfhundert verschiedene Schachspiele hat er im Angebot, ebenfalls eine einzigartige Palette. Figuren aus Holz, Bernstein, Kupfer und Zinn gehören ebenso zu Auswahl wie aus Marmor, Glas, Speckstein oder Keramik. Die Protagonisten stammen aus der Antike, der Zaren- , der amerikanischen Bürgerkriegs- oder Preußenzeit, stellen Heiligbilder oder Fußballer dar oder sind den Seemannsmotiven entlehnt.
Ob klassisch. mondän oder verspielt - für jeden Schachspieler gibt es Figuren und das entsprechende Brett dazu. auch Schachcomputer, Postkarten mit Schachmotiven , Schachuhren und T-Shirts, Anstecker und Krawatten sind in dem Laden zhu finden.
An den Wochenenden reist Ralf-Axel Simon zu verschiedenen Wettbewerben, spielt sowohl in einer Mannschaft in der Schweizer Nationalliga B (und steht vor dem Aufstieg in die höchste Spielklasse) als auch beim MSV Neuruppin in der Landesliga "in einer wunderbaren Mannschaft, die sich entwickelt", nimmt weiterhin an großen Turnieren teil, wie jenen in Lugano und Zürich, die mehrer Tage dauern. Über fünfzig Partien, die über sehs Stunden, absolviert er jedes Jahr, dazu unzählige Partien im Blitz- und Schnellschach. Schach ein bloßes Hobby? Ralf-Axel Simon lächelt.


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